Warum uns das Narrativ der Work-Life-Balance nicht gut tut!

Veröffentlicht am: 20. September 2023

Genauso wie Aussprüche „Ich lebe nicht, um zu arbeiten, sondern arbeite, um zu leben!“.  Natürlich bin ich nicht der Meinung, dass man permanent arbeiten sollte. Doch um klarzumachen, was ich an Begriffen wie Work-Life-Balance oder dem o.g. Ausspruch schwierig finde, möchte ich gerne einen Blick auf unsere menschlichen Bedürfnisse werfen.

Unsere menschlichen Bedürfnisse

Der Einfachheit halber bediene ich mich hier auf die Bedürfniskategorien von Maslow: Physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse und Selbstverwirklichung. Wobei ich explizit davor warnen möchte, die Bedürfnisrangfolge, die die Maslowsche Bedürfnispyramide suggeriert, für bare Münze zu nehmen, da es für diese Rangfolge keine wissenschaftliche Evidenz gibt.

Hier einige Bedürfnisbeispiele für die jeweiligen Bedürfniskategorien:

Physiologische Bedürfnisse: Essen & Trinken, Gesundheit, Erholung, Bewegung

Sicherheitsbedürfnisse: Dach über dem Kopf, Struktur, Planbarkeit, Vorhersehbarkeit

Soziale Bedürfnisse: Verbindung, Zugehörigkeit, Fürsorge, Unterstützung, Fairness

Individualbedürfnisse: Selbstbestimmung, Gesehen werden, Wertschätzung, Wirksamkeit

Selbstverwirklichung: Ästhetik, Kreativität, Authentizität, Sinn, Weiterentwicklung

All dies sind menschliche Bedürfnisse und all diese Bedürfnisse dienen dem Leben. Jedes dieser Bedürfnisse spüren wir als Menschen regelmäßig. Wir empfinden Freude, Begeisterung oder Zufriedenheit, wenn das Bedürfnis erfüllt wird. Und wenn ein Bedürfnis nicht erfüllt wird, empfinden wir Ärger, Angst, Trauer oder Schmerz.

KURZ: All diese Bedürfnisse würde ich im Rahmen der Work-Life-Balance Logik zum Bereich LIFE zählen. Korrekt?!

Doch was gehört dann um Bereich WORK?

Definition & Bewertung von Arbeit

Werfen wir dazu einen kurzen Blick auf die Definition von Arbeit (Quelle: Gablers Wirtschaftslexikon):

„Zielgerichtete, soziale, planmäßige und bewusste, körperliche und geistige Tätigkeit. Ursprünglich war Arbeit der Prozess der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zur unmittelbaren Existenzsicherung; wurde mit zunehmender sozialer Differenzierung und Arbeitsteilung und der Herausbildung einer Tauschwirtschaft und Geldwirtschaft mittelbar.“

Spannend ist auch, sich die gesellschaftliche Bewertung von Arbeit über die Jahrhunderte anzuschauen (Quelle: Gablers Wirtschaftslexikon):

So war Arbeit in Antike und Mittelalter negativ besetzt und wurde als Angelegenheit der unteren sozialen Schichten angesehen. Erst im Protestantismus erhielt Arbeit eine positive Bewertung als gottgefälliges Tun, welche sich auch in der Industrialisierung wiederfindet.

Warum dieser Blick auf die Historie? Weil sich hier zeigt, dass Arbeit erst negativ besetzt war und danach NICHT zum Wohle des Menschen, sondern mit der Intention der Gottgefälligkeit praktiziert wurde. Und so ist völlig aus dem Blick geraten, welchen Nutzen Arbeit für unser Leben als Menschen hat.

Arbeit als Teil oder Widersacher des Lebens?

Der Blick auf unsere Bedürfnisse kann helfen zu verdeutlichen, dass Arbeit in vielen Bereichen gleichbedeutend mit Leben ist. So können bei der Arbeit je nach Aufgabe und Rolle ganz unmittelbar unsere Bedürfnisse z.B. nach Wirksamkeit, Zugehörigkeit, Austausch, Kreativität, Sinn, Wertschätzung und vieles mehr erfüllt werden. Falls es bei der Arbeit eine Kantine und Betriebssport Angebote gibt, sogar die Bedürfnisse nach Nahrung und Bewegung. Und Weiterbildungsangebote können unsere Bedürfnisse nach Lernen, Wachstum und Abwechslung befriedigen.

Wie man sieht, bietet die Arbeit uns viele Gelegenheiten unserem Leben zu dienen.

Andersherum: Wer dem Narrativ der Work-Life-Balance folgt, der geht bewusst oder unbewusst davon aus, dass in der Arbeitszeit kein Leben stattfindet und nimmt Leben nur am Feierabend, am Wochenende, im Urlaub und später „im wohl verdienten Ruhestand“ wahr. Und versäumt unglaublich viele Gelegenheiten zu leben.

Mit dem Begriff Work-Life-Balance reden wir uns immer wieder ein, dass Arbeit kein Leben ist und dass Arbeit negativ – weil kein Leben – ist.

Mit unseren Gedanken & Bewertungen kreieren wir unsere persönliche Realität

Die Work-Life-Balance Gedanken, Bewertungen und Sichtweise schaffen meine Realität, wie ich auf die Welt schaue und wie ich Erlebnisse bewerte. Z.B. Gespräch mit Kollegen*innen während der Arbeitszeit und Gespräche mit Familie & Freunden in der sogenannten Freizeit: same, same, but different. Zusammen mit den Narrativen und Gedanken „Ich darf bei der Arbeit keinen Spaß haben“, „Arbeit ist Pflichterfüllung“ oder „Für Arbeit gibt es Schmerzensgeld“ machen wir Arbeit für uns zu etwas schier Unerträglichem.

Wer so denkt, der entscheidet sich, ein Drittel seiner/ihrer Lebenszeit vom Leben auszuschließen. Da wir bei einem Vollzeit Job im Schnitt acht Stunden arbeiten, außerdem weitere acht Stunden Schlaf brauchen, bleiben nur acht Stunden Lebenszeit pro Tag über. In denen müssen wir zu allem Übel auch noch zur Arbeit hin oder wegkommen, Zähne putzen, Kinder fertig machen, einkaufen, putzen, kochen (oder doch lieber Fertiggerichte?). Letztendlich verbleibenden nach dieser Work/Life-Balance Logik nur ca. 2-3 Stunden echtes LEBEN pro Tag (~ 10% life output per day), in denen wir uns nicht selten vom Fernseher berieseln lassen.  

Das Ergebnis?! Eine wirklich miserable Life Performance. Kein Wunder, dass diese Sichtweise bzw. dieses Narrativ den Urlaub und die Flucht aus dem (vermeintlich) grauen Alltag überwichtig werden lässt.

BALANCED LIFE anstatt Work/Life-Balance

Doch was wäre, wenn man Arbeitszeit als Lebenszeit verstehen würde? Ist diese Sichtweise angesichts der bei der Arbeit erfüllten menschlichen Bedürfnisse (s.o.) nicht vielleicht sogar die richtigere bzw. gesündere?!

Bildquelle: pexels-helena-lopes-1015568

Dann würde es jedoch keinen Sinn mehr machen, von Work-Life-Balance zu sprechen und eine gute Work-Life-Balance anzustreben. Somit wäre eher das Anstreben eines „neudeutsch“ BALANCED LIFE erstrebenswert. Sprich eines Lebens, in dem alle wichtigen Bedürfnisse wie Wirksamkeit, Selbstbestimmung, Kreativität, Erholung & Co. ausreichend Raum bekommen und in einer guten Balance sind.

ABER …

Jetzt werden viele sicher sagen: „Ja, wenn ich meinen Traumjob hätte, dann würde das mit dem BALANCED LIFE sicher Sinn machen. Aber bei meinem Job geht das nicht und mir bleibt nichts anders übrig, als meine Work-Life-Balance zu optimieren.“

All denen, die sich in der letzten Aussage wiederfinden, kann ich viele gute Coaches und Workshops zur Gestaltung eines erfüllten Lebens empfehlen. Und wem der Gang zum Coach oder zu Workshops übertrieben erscheint, der/die mag vielleicht ab und zu bei der Arbeit mal bewusst die Fliegen-Brille (Suche nach dem Unangenehmen und Schlechten bei der Arbeit) abnehmen und mit der Bienen-Brille (Suche nach Schönem, Verbindendem und Nährendem) Situationen, Begegnungen und Erlebnisse bei der Arbeit wahrnehmen, in denen Freude, Begeisterung oder Dankbarkeit aufsteigen und wichtige Bedürfnisse erfüllt sind. Und auf diese Weise feststellen, dass wir bei jedem Job und jeder Arbeit auch Momente des Lebens erfahren können. Wenn wir offen dafür sind.

Ich wünsche allen Menschen viel Freude und Erfolg beim LEBEN während der ARBEIT und natürlich auch in ihrer FREIZEIT. Und bei der gesunden und erfüllenden Gestaltung ihres Lebens in Balance!