Wenn Agilität und Achtsamkeit sich treffen würden, wo wäre das wohl am ehesten? In einer Bar, bei Starbucks oder in der Flughafenlounge?
Ich denke am ehesten würden sie sich bei einer Weiterbildung zu Kommunikation, Beziehungsgestaltung und Selbststeuerung treffen und kennen- und schätzen-lernen.
Vermutlich wäre die Achtsamkeit dort als Trainer*in und die Agilität in Form der Scrum Master:in als Teilnehmer*in und Trüffelschwein auf der immerwährenden Suche nach immer neuen und hilfreichen Methoden für das Scrum Team.
Die beiden würden sich sofort wunderbar verstehen. Haben sie doch so viele gemeinsame Interessen. Genau wie die Scrum Master:in liebt die Achtsamkeit Empirie und Metriken. Und während die Scrum Master:in auf Team-Plankapazität, Story Points, Burn-down Charts & Co. schwört, setzt die Achtsamkeit auf Hirn-Scans, Kortisol Messungen und Fragebögen (siehe American Mindfulness Research Association Grafik).
Eine lange Nacht wird es dann, wenn sie zu ihrer beider Lieblingsthema – der Selbststeuerung – kommen. Für Scrum Master:in und Entwickler:innen Team ist sie das A und O, damit agiles Arbeiten funktionieren und in jedem Sprint Wert geschaffen werden kann. Und für die Achtsamkeit ist die Erhöhung der persönlichen Selbststeuerungsfähigkeiten ein ganz zentrales Trainingsziel der täglichen Übungspraxis.
Kurz stutzen wird die Scrum Master:in vielleicht, wenn die Achtsamkeit Selbststeuerung auch im Kontext von Emotionsregulation anspricht. Geht es der Scrum Master:in doch primär darum, die nachhaltige Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit des Teams zu erhöhen. Doch schnell erkennt die Scrum Master:in, dass Selbststeuerung, Leistungsfähigkeit und Emotionsregulation in agilen Teams untrennbar miteinander verbunden sind, da es in agilen Teams keine klassischen Hierarchien gibt, die die Beziehungen der Teammitglieder untereinander managen. Und die Teammitglieder daher nicht nur ihre Arbeit selbstgesteuert erledigen müssen bzw. dürfen, sondern auch ihre Beziehungen untereinander eigenverantwortlich gestalten dürfen und auch müssen.
Und genau bei der eigenverantwortlichen Beziehungsgestaltung, -aufrechterhaltung und -weiterentwicklung ist jede Menge Emotionsregulation erforderlich. Den nur weil die Mitglieder von Scrum Teams agile Prinzipien und agiles Arbeiten lieben, heißt es noch lange nicht, dass sie daher jetzt plötzlich alle Schwarzgurte in Beziehungsgestaltung sind.
Nicht umsonst hängen in vielen Retro-Räumen bereits die Regeln der gewaltfreien Kommunikation nach Marshal Rosenberg. Und welche Kraft kann die gewaltfreie Kommunikation erst entfalten, wenn sie mit Achtsamkeit ausgeführt wird. Schließlich geht es bei dieser Form der Kommunikation auch um Gefühle und Bedürfnisse.
Und Gefühle und Emotionen nimmt man am schnellsten und zuverlässigsten im Körper wahr, wie das Forscherteam des Neurowissenschaftlers Antonio Damasio im Iowa Gambling Task festgestellt hat. Zum gleichen Ergebnis kommt auch das Forscherteam von Max-Planck Professorin Tania Singer in dem mit 240 Probant*innen sehr groß angelegten ReSource Projekt.
Inzwischen ist das Seminar längst zu Ende und die beiden haben sich entschieden, sich einen Coffee-to-go zu holen und ihre Unterhaltung bei einem Spaziergang im Park fortzusetzen. Schließlich gibt es noch sovieles an gemeinsamen Interessen wie Fokus, Mut, Commitment und Offenheit zu besprechen.
Die Scrum Master:in hört ganz gespannt zu, als die Achtsamkeit von den zahlreichen wissenschaftlichen Studien berichtet, die nachgewiesen haben, dass die Praxis der Achtsamkeit die Fähigkeit den Fokus zu halten signifikant stärkt.
Begeistert stellen beide fest, wie wichtig ihnen Mut, Commitment und Offenheit sind. Beide sind sich total einig, wie elementar Commitment auf die Sprint Ziele bzw. die tägliche Achtsamkeitspraxis für den Erfolg ist. Und während die Achtsamkeit beschreibt, wie wichtig Mut und Offenheit sind, um sich auf alle in der Meditation aufsteigenden Erfahrungen einzulassen, berichtet die Scrum Master:in, dass es für das Scrum Team immer wieder eine große Herausforderung ist, offen gegenüber Neuem und Planänderungen zu sein und dass das Umwerfen von Plänen und das permanente Hinterfragen des Status Quo von allen Beteiligten auch sehr viel Mut verlange.
Denn schließlich bedeute Mut ja nicht, keine Angst mehr zu haben, sondern die eigene Angst wahrzunehmen und es trotzdem zu tun.
Auch brauche es ja Mut – so berichtet die Scrum Master:in – sich mit seinen Ergebnissen nach jedem Sprint immer wieder zu zeigen, Feedback zu bekommen und sich ggf. auch mit seinen Fehlern auseinander setzen zu müssen. Auch wenn es eine konstruktive Fehlerkultur im Scrum Team und bei den Stakeholdern gebe.
Umso positiv überraschter ist die Scrum Master:in zu hören, dass die Achtsamkeit garnicht in den Kategorien „richtig – falsch“ oder „Fehler“ denkt, da sie permanent übt, alles einfach wahrzunehmen und zu beschreiben anstatt zu bewerten.
Am Ende des Spaziergangs kurz bevor sie sich verabschieden, muss die Scrum Master:in der Achtsamkeit dann doch noch ein Geständnis machen: „Liebe Achtsamkeit, ich bin sehr froh, dass wir uns heute kennengelernt haben und soviel Zeit hatten, uns auszutauschen. Ich muss gestehen, dass ich vor unserem Gespräch viele Vorurteile über Dich hatte. Ich dachte, Du hättest was mit Religion, spiritueller Praxis, Selbstfindung und Gurus zu tun. Nie hätte ich gedacht, dass Du Dich für neurowissenschaftliche Forschung interessierst und dass es sich bei Dir um ein Gehirn- und Körpertraining handelt. Ich freue mich sehr, dass ich dazu heute soviel dazugelernt habe!“
Die Achtsamkeit lacht nur und sagt, dass sie diese Vorurteile häufiger höre und dass sie ja ihre Wurzeln in der Tat im Buddhismus habe, der sich jedoch eher nicht als Religion sondern als „Way of Living“ verstehen würde. Doch unabhängig davon verdanke sie es dem Amerikaner Jon Kabat-Zinn, dass es ihre Prinzipien und ihre Übungen zu Fokus, Selbststeuerung und Emotionsregulation jetzt bereits seit den 1970iger Jahren ganz frei von Religion und Spiritualität gebe. Eben wie die Scrum Master:in gerade richtig erkannt habe als reines Mental- und Körpertraining.
Und auch Klangschalen seien kein MUSS für die Achtsamkeitspraxis, sondern viele Praktizierende würden einfach irgendeinen Timer für das Timeboxing ihrer Praxis verwenden. Die Scrum Master:in ist ganz überrascht, dass die Achtsamkeit den Begriff des Timeboxing kennt. Doch die Achtsamkeit zwinkert ihr nur zu und sagt: “Meinst Du ich bin von gestern?!”
Beide verabschieden sich herzlich voneinander. Nicht jedoch ohne sich vorher für ein nächstes Treffen verabredet zu haben! Vielleicht sogar zusammen mit dem gesamten Scrum Team. Denn die Scrum Master:in kann sich sehr gut vorstellen, dass ihre Kolleg*innen genauso begeistert sein werden von der Achtsamkeit und ihren Fähigkeiten wie sie.